Das große Roma und Sinti FAQ – Mehr Wissen, weniger Klischee!
Ganz einfach: Menschen. Roma und Sinti sind Menschen, wie alle anderen auch. „Rom“ (Einzahl / männlich) bedeutet übrigens nichts anderes als „Mensch“ in der Sprache der Roma (Romanes). Romnja ist das weibliche Pendant.
Roma und Sinti sind vermutlich zu unterschiedlichen Zeitpunkten aus Nordwest Indien aufgrund von kriegerischen Auseinandersetzungen und Vertreibung geflohen. Dieses Gebiet beheimatet noch heute mehrere Hundert unterschiedliche Gruppierungen mit eigenen Sprachdialekten. Folglich gibt es auch in Europa weitere Gruppen, die zwar zu Roma und Sinti zusammengefasst werden, aber durchaus unterschiedlich sind, beispielsweise die Manouches, Kale, Kalderasch oder Ramichals.
Ein einfaches Beispiel zur Verdeutlichung: Müssten heute mehrere hunderttausend Menschen aus dem Länderdreieck Deutschland, Luxemburg, Belgien aufbrechen und weiterziehen, hätten diese natürlich sichtbare und hörbare Gemeinsamkeiten, aber eben auch Unterschiede. Darunter wären verschiedene Sprachen wie: Deutsch, Luxemburgisch und Französisch aber auch Mundarten wie das rheinländische Plattdeutsch oder eben auch Wallonisch.
Wie am Beispiel weiter oben aufgezeigt, sind die unterschiedlichen Formen der Sprache durchaus beachtlich. Es ist davon auszugehen, dass sich ein Sinto aus Hamburg nicht mit einer Romnja aus Bulgarien problemlos unterhalten kann. Die einzelnen Dialekte haben über die Jahrhunderte auch Lehnwörter aus der Mehrheitsgesellschaft übernommen, was die Kommunikation weiter erschwert. Romanes ist nicht standardisiert und wird in viele verschiedene Dialekte gesprochen.
Die Sprachwissenschaft ist in dieser Fragestellung, die am besten untersuchte Disziplin und bietet daher noch die gängigste Erklärung der Unterschiede. Etymologisch konnte nachvollzogen werden, dass die Gruppe, die sich selbst als Sinti bezeichnet und mehrheitlich in Nord- und Westeuropa sesshaft geworden ist, früher bzw. schneller nach Europa gekommen ist, ohne länger im persischen Sprachraum oder auf der Balkanhalbinsel zu verweilen. Das Romanes, das Roma auf dem Balkan sprechen, beinhaltet viele altgriechische Wörter, der von den Sinti gesprochene Dialekt nahezu keine. Folglich sind diese vermutlich „in einem Ruck“ gewandert und die anderen eher zyklisch.
Eine andere Theorie verfolgt einen geographischen Ansatz und geht davon aus, dass es sich um differenziertere Ursprungsvölker als bisher gedacht, handelt. Hier wird die These aufgestellt, dass Sinti aus der Gegend stammen, die wir im heutigen Indien „Sindh“ nennen und Roma aus Punjab. Weitere Publikationen hierzu könnten mehr Erkenntnis bringen.
Bekannte Gemeinsamkeiten all dieser Gruppen sind: Die mündliche Weitergabe der Sprache, Geschichte und Kultur an nachkommende Generationen sowie ein besonderer Stellenwert der Familie und der älteren Menschen. Leider gehören auch Diskriminierungserfahrungen dazu und die Tatsache, dass all diese Menschen als „Zigeuner“ zusammengefasst und diskreditiert wurden und werden.
Genau so, wie die Mehrheitsgesellschaft die Minderheitengruppe geprägt und beeinflusst hat, geschah und geschieht dies auch umgekehrt. Beispielsweise leiten sich einige bekannte Begrifflichkeiten aus der Sprache der Roma ab. So zum Beispiel die „Lollipops“. Zurückzuführen auf rote, kandierte Äpfel, die auf Jahrmärkten noch heute verkauft werden. Auf Romanes heißen diese „Loli phab“.
Das englische Wort „pal“ für Freund oder Kumpel ist vermutlich auch vom Wort „phral“ abgeleitet, das auf Romanes „Bruder“ bedeutet. Der Ausdruck „Bock haben“ ist übrigens ebenfalls auf das Romanes zurückzuführen. „Bokh“ steht hier für Hunger oder Lust.
Ein nicht außer Acht zu lassen der Einfluss ist der musikalische. Roma und Sinti haben viele verschiedene Musikrichtungen geprägt und ergänzt. Swing, Blues, Fanfare aber auch Klassik und neuere Richtungen wie der auf dem Balkan äußerst beliebte „Pop Folk“ oder „Chalga“.
Viele bekannte Persönlichkeiten gehören zur Gruppe der Roma und Sinti. Aus dem Bereich Musik beispielsweise der Rapper SIDO oder die Schlagersänger Marianne Rosenberg („Er gehört zu mir“) oder Drafi Deutscher („Marmor, Stein und Eisen bricht“). Daneben Legenden wie Django Reinhardt, Saban Bajramovic oder Ron Wood von den Rolling Stones.
Auch sportlich sind viele Roma und Sinti erfolgreich (gewesen), so zum Beispiel: Johann Wilhelm Trollmann (Deutscher Boxer und Meister in den 30er Jahren), Andre-Pierre Gignac (Französischer Fußballer und Nationalspieler), Jesus Navas (Spanischer Fußballspieler) oder Ricardo Quaresma (Portugiesischer Fußballspieler).
Die stigmatisierende Bezeichnung„Zigeuner“ ist aus mehreren Gründen abzulehnen und problematisch:
All das trägt dazu bei, dass die breite Mehrheit der Roma und Sinti nicht als „Zigeuner“ bezeichnet werden möchte.
Mit Antiziganismus bezeichnet man die besondere Form des Rassismus und der Diskriminierung gegenüber Roma und Sinti. Die Bandbreite der Anfeindungen reichen von Stigmatisierung, Marginalisierung, Herabwürdigung, Ausgrenzung, Hassrede bis hin zur physischen Gewalt. Wichtig und hervorzuheben ist, dass der Antiziganismus nicht mit dem Nationalsozialismus begonnen hat und auch nicht mit diesem endete. In nahezu allen Ländern Europas herrscht eine weitverbreitete Ablehnung gegenüber Roma und Sinti.
Roma und Sinti sind seit etwa 600 Jahren in Europa sesshaft. Ihre Ankunft wurde zunächst positiv aufgenommen, sie erhielten Schutzbriefe und konnten Handel betreiben und ihre Dienstleistungen anbieten. Die Stimmung kippte jedoch recht schnell, weil Roma und Sinti zu einer Zeit nach Europa gekommen sind, als Rassismus und die Theorie der „Überlegenheit“ der Mitteleuropäer populär wurden. Darüber hinaus verfestigten Stadtchronisten Stereotypen und schürten Angst, in dem Sie über „Hexen, Kindesentführungen und anderen mythischen Sagen“ schrieben. Positive Erwähnungen oder neutrale, wo Archivare eine neue Gruppe nannten, die zwar unbekannt, aber friedfertig ist, blieben weitestgehend ungeachtet. Diese Aufmerksamkeitslenkung oder auch Framing genannt, findet wir übrigens noch heute statt. Wir sind für negative und katastrophale Nachrichten wesentlich empfänglicher als für positive oder neutrale.
Diese Anfeindungen manifestierten sich über die Jahrzehnte und Jahrhunderte. Als das Osmanische Reich sich Richtung Mitteleuropa ausweitete, diffamierte man Roma beispielsweise als „Spione der Türken“.
Die Geschichte der Menschen mit Romno-Hintergrund ist leider eine Leidensgeschichte. Infolgedessen wurde ihnen das Niederlassen verwehrt (wenn, dann nur am Stadtrand), sie wurden versklavt (Walachei und Moldau), ihnen wurde verwehrt die Sprache zu sprechen (Österreich/ Ungarn) und als Zwangsassimilationsmaßnahmen wurden ihnen auch Kinder weggenommen.
Das Wissen bzw. Unwissen über Roma und Sinti, das leider immer noch weit verbreitet ist, ist eben ein Wissen aus einer Zeit, in der man sich nicht neutral oder intensiv mit den Menschen auseinandergesetzt hat. Die wesentlichen Quellen über Roma und Sinti entspringen sehr menschenverachtenden mittelalterlichen Zusammenfassungen oder romantisierender Literatur, wo Figuren und Charakteristika entstanden sind, die sich über die Verbreitung des Lesestoffs fest etablieren konnten. So wurden beispielsweise über Jahrhunderte in der bekannten Brockhaus Enzyklopädie „[…] Zigeuner als ein primitives und minderwertiges Volk beschrieben, das im grundsätzlichen Gegensatz zum zivilisierten Wirtsvolk oder Gastland stehe.“ (Zit. n. Karola Fings) Bis 1885 war sogar noch von „Unkraut“ die Rede.
Die Kultur und Geschichte der Roma ist mündlich übertragen. Es gibt folglich wenig eigene Verschriftlichungen zu den Ursprüngen und Erfahrungen der Menschen. Lange Zeit war man also auf Wissen angewiesen, das andere nicht werteneutral generiert haben.
Heutige Studien, z. B. der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, zeigen, dass Menschen sehr schnell bestimmte Merkmale mit Roma und Sinti in Verbindung bringen; meist negativ behaftete Klischees. Ursächlich hierfür sind Zeichnungen, Kinderbücher, Märchen und sonstige Geschichten, die einfach verbreitet werden. Man bekommt eine antiziganistische Grundeinstellung also schon von Kind auf vermittelt.
Die wenigsten Menschen kennen Roma und Sinti selbst und eine breite Mehrheit will mit ihnen gar nichts zu tun haben, so die Studie. Unwissen, Abneigung und kein Interesse an Aufklärung sind eben eine äußerst destruktive Kombination. Wenn diese seit Jahrhunderten anhält, wundert es niemanden, dass Roma und Sinti noch heute angefeindet werden.
Wie viele Menschen mit Romno-Hintergund in Europa oder gar auf der Welt leben, lässt sich nicht wirklich beziffern. Offizielle Angaben aus bestimmten Ländern basieren auf freiwillige Angaben. Roma und Sinti haben jeweils die Staatsangehörigkeit des Landes, in dem sie geboren werden und leben. Dementsprechend gibt es deutsche Sinti und Roma aber auch mazedonische oder polnische.
Schätzungsweise leben in Europa zwischen 10 – 15 Millionen Menschen mit einem Romno-Hintergrund. In Rumänien beispielsweise sollen offiziell um die 650.000 Roma leben. Verschiedene Schätzungen gehen aber von 2 Millionen aus. Ähnlich dürfte es auch in vielen anderen Ländern sein.
Viele Menschen verschweigen Ihre Zugehörigkeit, weil Sie Angst vor Ausgrenzung und Anfeindungen haben. Die meisten wollen ein normales Leben führen und verbergen ihre Zugehörigkeit, weil sie wissen, dass oftmals nur dann eines möglich ist.
Das Verschweigen der Zugehörigkeit ist nachvollziehbar, traurig und zugleich hinderlich. Aussagen über Sinti und Roma bekommen so eine ganz andere Prägnanz; auch im Hinblick auf Bildung.
Einen einführenden Überblick bieten die Standardwerke von:
Fings, Karola (2016): Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, München, C.H. Beck
und
Bogdal, Klaus-Michael (2014): Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin, Suhrkamp Verlag