Als ich lernte, dass Tattoos nicht immer cool sein müssen
Ich bin schon immer von Tätowierungen fasziniert gewesen, fand es cool, dass Menschen ihre Haut veränderten, beschmückten. Für mich hatte es etwas freiheitlich Rebellisches. Jemand entscheidet selbst über seinen Körper und Look und kann diese verändern.
Mein Großvater war der einzige in meiner Familie mit einem Tattoo. Auch wenn es nicht so auffällig war wie die, die ich schön fand, war es irgendwie cool. Nur wollte oder konnte er mir nie wirklich sagen, warum er eins hatte. Als Kind fragte ich ihn einige Male nach dem Ursprung. Dann murmelte er immer etwas von einem Lager, was ich nicht verstand.
Erst durch den Geschichtsunterricht in der Schule sollte ich erfahren, woher mein Opa seinen „Körperschmuck“ hatte. Ich war schockiert, als ich hörte, dass Menschen in Lagern zusammengepfercht, zur Arbeit gezwungen und schließlich ermordet wurden.

Einige Wochen später besuchte mein Großvater unsere Schule und erzählte als Zeitzeuge der gesamten Klasse, was er in diesem besonderen Lager erlebt hat. Mit traurigen Augen und zittriger Stimme gab er wieder, wie es war, einem Toten die Stiefel ausziehen zu müssen und sie zu tragen, um nicht selbst zu erfrieren. Wie es war, einem beim Essen vor Erschöpfung Verstorbenem das Brot zu nehmen, um selbst nicht zu verhungern oder wie schwer es war zu zählen, während man ausgepeitscht wurde, um sich nicht zu verzählen, weil dann die Folter von vorne begann.
Ich werde diesen Tag, an dem ich erfuhr, welches ungeheure Leid meinem Großvater widerfahren ist, niemals vergessen. Auch werde ich nie vergessen, wie er unter Tränen beschrieb, dass er nachts in seinen Träumen immer noch die Toten sieht und den beißenden Geruch in der Nase spürt.
Galo (Heinrich Otto) Petermann. So hieß mein Großvater. Er wurde am 25.11.1925 in Magdeburg geboren. Dort lebte er mit seiner Familie am Wohnwagenplatz und erlernte den Beruf des Korbflechters. Die Großfamilie betrieb auch einen Pferdehandel.
Ressentiments und Ausgrenzung hatten alle bereits früh erfahren. Ende der 1930er Jahre spitzte sich jedoch alles zu. 1941 wurde dann die ganze Familie verhaftet und nach Buchenwald deportiert. Noch in der ersten Nacht wurden die Kinder von den Eltern getrennt. Mein Großvater wurde dann nach einer Woche wiederum von seinen Geschwistern entrissen und musste nach Auschwitz. Er war damals gerade erst 16 Jahre alt.
Seine Geschichte hat mich stark gemacht. Egal in welch beschwerlichen und scheinbar ausweglosen Situationen ich mich befunden habe, dachte ich an meinen Opa. Er hat viel Schlimmeres durchgestanden, überlebt und dennoch ein zufriedenes Leben führen können. Daran erinnert mich auch dieses Bild auf dem er angelehnt am Wohnwagen sein Tattoo zeigt. Als würde er der dunklen Vergangenheit und der Beengtheit zeigen wollen, dass er nun frei ist und alles Recht der Welt hat zu sein, wer er ist.

Sein zu dürfen, wer man ist – dafür setze ich mich heute ein und deswegen ist es mir wichtig diese Geschichte zu erzählen. Mein Großvater musste viel Leid ertragen, ohne dass er jemals jemandem etwas Böses getan hat. Einfach nur, weil Rassisten eine unmenschliche Ideologie verfolgten.
In der heutigen Zeit, in der Gewalt gegenüber Minderheiten wieder zum Thema wird, sehe ich es als meine Pflicht aufzuzeigen, dass Hass und Ausgrenzung zwangsläufig zu Leid führen. Mein Opa sagte mir einmal: „Kind, wir sind alle Kinder Gottes auf dieser Welt. Und er hat uns sicherlich nicht gemacht, um uns gegenseitig zu vernichten.“